Azofra

 

Sicherlich gibt es Dörfer entlang des Camino, die schöner oder interessanter sind als Azofra. Doch ich mochte diesen kleinen Ort vom ersten Anblick an, war dort mit meinen Wandergefährten regelrecht hängen geblieben, obwohl wir an jenem Tag noch nicht allzu viele Kilometer zurückgelegt hatten. Nun war ich gespannt, wie es mir gefiele, wenn ich länger dort bliebe.

Das Dorf mit seinen rund 330 Einwohnern liegt in der Provinz Rioja, etwa acht bis zehn Tage Fußweg entfernt von Saint-Jean-Pied-de-Port. Der Camino führt hier hinter der Stadt Nájera, bekannt für Kloster und Kirche Santa María la Real, zunächst auf eine Hügelkette hinauf, danach geht es gemächlich bergab durch sanft gewelltes Agrarland mit Weinbergen und Feldern. Nach einer Wegbiegung sieht man in dunstiger Ferne Azofra liegen, in der Mitte die Kirche auf einer kleinen Anhöhe, um die sich die Häuser zu kuscheln scheinen — ein malerisches Bild, das mich seinerzeit sofort bezauberte. Von Nahem besehen ist der Ort wenig spektakulär, aber hübsch, mit bunten Blumen vor den Fenstern der alten Häuser und Rosenstöcken, die sich an vielen Mauern hochranken.

Wer in Azofra nicht von der Landwirtschaft lebt, arbeitet in Städten der näheren und weiteren Umgebung. Im Dorf selbst gab es, zu der Zeit als ich dort war, zwei Tante-Emma-Läden, eine Apotheke, zwei Restaurants und zwei Herbergen. Die Unterbringung von Pilgern hat hier eine lange Tradition. Schon im 12. Jahrhundert begründete eine Adelsfrau in Azofra ein Pilgerhospiz, das bis 1835 bestand.

Die beiden Herbergen jetzt waren eher klein, die von der Pfarrgemeinde unterhaltene Albergue konnte gut zwei Dutzend, die private ein Dutzend Pilger unterbringen. Deshalb gab es auch vage Pläne für den Bau einer größeren kommunalen Albergue.

Die Pfarrherberge nahe der Kirche war vor Jahren mit Hilfe einer Gruppe von Kölner Santiagofreunden ausgebaut und eingerichtet worden und galt als eine der freundlichsten Herbergen am Camino — was vor allem das Verdienst der hauptamtlichen Hospitalera, einer älteren Dame namens María, war.

Die Privatherberge am Hauptplatz des Dorfes direkt neben dem Camino hatte Roland, als ich auf meiner Pilgerreise dort Halt machte, gerade vor ein paar Monaten eröffnet. Nun während meiner Hospitalera-Zeit führte er sie im zweiten Jahr.

Die Albergue war einst ein herrschaftliches Haus gewesen mit Wirtschaftsräumen im Erdgeschoss, Wohn- und Schlafzimmern im ersten Stock und einem Speicher darüber. Viel von der einstigen Herrenhaus-Atmosphäre hatte sich nach der Umgestaltung zur Pilgerunterkunft erhalten, im Grunde war das Ganze mehr eine spanische Variante von Bed & Breakfast, eher eine kleine Frühstückspension als eine Herberge. Statt der herbergsüblichen Schlafsäle gab es Drei-Bett-Zimmer, ein elegantes Bad und ein kleines Wohnzimmer, von Roland liebevoll ausgestattet mit alten Möbeln, Bildern und Erinnerungsstücken, die er von seinen vorherigen Wohnsitzen mitgebracht hatte. Seine Herberge sollte kein simples Pilgerquartier sein, sondern etwas Besonderes, eine Art Parador unter den Refugios. Ein hoher Anspruch, schließlich sind Paradores staatliche spanische Luxushotels, eingerichtet in historischen Gebäuden. Ein Anspruch auch, den — wie ich bald merken sollte — nicht alle gleichermaßen zu schätzen wussten und der gelegentlich mit den wesentlich schlichteren Bedürfnissen mancher Pilger kollidierte.

Wie auch immer, ich fand die kleine Herberge und das überschaubare Azofra ideal, um mich in die Pflichten einer Hospitalera und in den spanischen Alltag einzufinden.

Azofra, erklärte mir Roland, sei das arabische Wort für die Arbeit, die Leibeigene für den Lehnsherren leisten müssen, auch das fand ich irgendwie passend.

In der Rückschau wurde mir außerdem klar, dass — wie in der Ouvertüre einer Oper — hier bereits fast alle Leitmotive für meine Zeit als Hospitalera in spanischen Pilgerunterkünften angespielt wurden.

Die Lage der Herberge hatte übrigens tatsächlich etwas Opernkulissenhaftes an sich — als Eckgebäude an dem großen Platz, der wie alle zentralen Plätze in Spanien Plaza de España hieß, und auf dem wie auf einer Bühne im Laufe der Zeit allerlei Szenen gespielt werden sollten.

„Das ist hier wie im Barbier von Sevilla“, pflegte Roland zu sagen. „Der große leere Platz, alles ist ruhig — aber man weiß: Irgendwann wird etwas passieren.“

Vor der Albergue, von Roland „La Fuente“ — der Brunnen — getauft, befand sich ein eben solcher. Genau das hatte mich daheim, als wir im Freundeskreis darüber spekulierten, was ich während meiner Hospitalerazeit erleben könnte, zu meiner Phantasie von dem brasilianischen Großgrundbesitzer inspiriert. Ich konnte mir nicht verkneifen, Roland davon zu erzählen, was ihn königlich amüsierte und dazu führte, dass er fortan jeden alleinwandernden Pilgersmann, der mich zum Essen oder auf einen Drink einladen wollte, mit strenger Miene fragte: „Hast du Latifundien in Brasilien? — Nein? — Dann wird das auch nix.“

 

Ich war an einem sonnigen Sonntag im Mai nach einer ziemlich umständlichen Reise angekommen. Mein Flieger war überbucht gewesen, deshalb hatte man mich in eine andere Maschine umdirigiert, so dass ich nicht spät abends, sondern erst am nächsten Mittag in Bilbao ankam. Roland konnte mich deshalb nicht, wie geplant, abholen.

Telefonisch lotste er mich in den Zug nach Miranda de Ebro und schickte mir dorthin einen Bekannten mit Auto. Am Spätnachmittag war ich endlich in Azofra, bezog meine kleine Hospitalera-Klause, die wie die Pilgerschlafräume im ersten Stock lag, und ließ mich von Roland in meine künftigen Pflichten einweisen.

Im Hausflur neben der Eingangstür stand ein Schreibtisch, dort würde ich sitzen und die Pilger in Empfang nehmen, ihre Credenciales abstempeln und ihre Daten in ein Buch eintragen. Anders als in öffentlichen Herbergen, wo Name, Herkunftsland, Passnummer, Ausgangspunkt der Pilgerreise, letzter Übernachtungsort und manchmal sogar noch mehr Daten — für irgendwelche Statistiken, wie es heißt — festgehalten werden, legte Roland auf solche Details keinen Wert.

Bei ihm lauteten die Eintragungen schlicht: „3 Deutsche, Frühstück um 7, 1 x Kakao, 2 x Tee“ oder „1 Franzose, Frühstück um 6, Milchkaffee“. Das erleichterte die Buchführung, hatte aber aus meiner Sicht den Nachteil, nicht zu wissen, wie die Leute hießen, die in der Albergue übernachteten. Doch merkte ich rasch, dass in Herbergen Namen ohnehin Schall und Rauch sind, weil man sie sich gar nicht alle merken kann. Der Einfachheit halber wurden die Pilger mit ihrer Nationalität angesprochen — „Österreich, lehn bitte den Wanderstock nicht gegen die Glasscheibe“ — was bestens funktionierte.

Nach dem Papierkram kam der Teil, der Roland unangenehm war, weshalb er vermutlich mir von Anfang an den Pilger-Empfang übertrug — nämlich das Einfordern der Übernachtungsgebühr.

Was Pilger bezahlen müssen und was sie umsonst bekommen, die schwierige Balance zwischen Gastfreundschaft und Geschäft, das ist eine unendliche Geschichte auf dem Camino, die zurückreicht bis in die Anfänge der Jakobus-Wallfahrt. In alter Zeit galt es als höchst verdienstvoll, Pilger zu beherbergen und zu versorgen, doch auch damals geschah das keineswegs immer nur gegen Gotteslohn. Zeitgenössische Schriften belegen die Klagen von Jakobspilgern, wie teuer alles sei, wie sie geschröpft und übers Ohr gehauen würden oder wie hart sie oft für Kost und Unterkunft arbeiten müssten.

Heutzutage sollte allein der gesunde Menschenverstand jedem Pilger sagen, dass es Geld kostet, Herbergen zu betreiben. Erst müssen sie eingerichtet, dann regelmäßig renoviert werden, Wasser und Strom sind zu bezahlen, ebenso die bescheidene Entlohnung für die hauptamtlichen, sowie Unterkunft und Beköstigung für die freiwilligen Hospitaleros. Dennoch glauben viele auf dem Camino, für sie als Pilger müsste alles nahezu umsonst sein, weil sie ja schließlich die lange Wallfahrt nach Santiago auf sich nehmen. Entsprechend wurde ich, wenn ich am Eingang der Herberge saß und wie der Fährmann in der griechischen Mythologie den Obolus für den Übertritt in die in diesem Falle nicht Unter- sondern Oberwelt verlangte, dafür gerüffelt.

„Was? Acht Euro soll es hier kosten? Das ist aber happig — andere Herbergen verlangen nur drei oder vier!“

„Gewiss, aber wir bieten auch mehr als andere Herbergen“, setzte ich dann geduldig auseinander. „Hier seid ihr in Dreibett-Zimmern untergebracht, bekommt ein üppiges Frühstück und um eure schmutzige Wäsche braucht ihr euch nicht zu kümmern — die waschen wir für euch mit der Maschine. Und das alles für nur acht Euro.“

Die meisten ließen sich von dieser Argumentation überzeugen; andere versuchten allen Ernstes zu handeln. „Ich trinke morgens bloß eine Tasse schwarzen Kaffee und hab’ jetzt nur ein Paar Socken zu waschen — um wie viel wird das billiger?“

Auf Diskussionen ließ ich mich in solchen Fällen gar nicht erst ein, sondern verwies freundlich auf die preiswertere Pfarrherberge. Das war oft aber auch nicht recht, vor allem dann, wenn es in der anderen Unterkunft nur noch Not-Matratzen im Flur oder unter dem Kirchenvordach gab.

„Ich bewundere dich, Elisabethchen, wie du das machst“, würdigte Roland ein ums andere Mal meine Verhandlungsführung. „Ich kann das nicht so gut.“

„Denk dir nichts, mein Vater war Bankkaufmann, da lernt man, in Finanzsachen unnachgiebig zu bleiben.“

An meinem ersten Abend in Azofra gab es allerdings keine Diskussionen ums Geld, die Pilger zahlten klaglos ihre acht Euro und lobten später das, was sie dafür geboten bekamen. Nachdem alle Betten belegt und sämtliche Waschmaschinen mit der Pilgerwäsche durchgelaufen waren, nahm Roland mich mit in sein Stammlokal, um mich im Dorf vorzustellen.

Die „Bar Sevilla“ war eine der für Spanien typischen Mischungen aus Restaurant, Kneipe und Cafeteria, wo man von morgens früh bis spät in die Nacht etwas zu essen und zu trinken bekam. Die Einheimischen pflegten hier für einen Kaffee oder eine Copa, ein Gläschen Wein, eine Pause in ihren Arbeitsalltag einzuschieben, für Pilger gab es Frühstück und ab mittags — wie üblicherweise entlang des Camino — günstige Pilgermenüs. Die Seele des Geschäfts war Begoña, eine mädchenhaft gebliebene Frau in mittleren Jahren mit dunklem Bubikopf und liebem Gesicht. Ich verstand mich auf Anhieb gut mit ihr, was sicher nicht nur daran lag, dass wir fast gleichaltrig waren. Wir fanden einfach sofort einen Draht zueinander und freundeten uns während meiner Azofra-Zeit immer mehr an.

Rolands bester Kumpel war Enrique, ein älterer Bauer mit verschmitztem Humor, der — laut Roland — ausgesprochen wohlhabend sein sollte, was man ihm aber weder von der Kleidung noch vom Auftreten her anmerkte. Enrique hatte eine Kehlkopf-Operation hinter sich und sprach deshalb für mich nahezu unverständlich. Er grinste, als er die Ratlosigkeit in meinem Gesicht las und entwickelte fortan eine spezielle Konversationsform extra für mich. Er warf mir einzelne Wörter, die er gerade noch halbwegs deutlich krächzen konnte, an den Kopf und ersetzte den Rest durch Gesten, Augenrollen und Grimassen. Tiefschürfende Unterhaltungen konnten wir auf diese Weise zwar nicht miteinander führen, aber wir verstanden uns.

An jenem ersten Abend tranken wir ein Gläschen guten Rioja-Wein nach dem anderen, aßen Nüsse und Roland erzählte — von Enriques Pantomime begleitet — drollige und derbe Anekdoten aus Azofras Dorfleben.

Später, nachdem der sanfte Nebel des Alkohols sich verzogen hatte und ich mir diese Geschichten noch einmal durch den Kopf gehen ließ, beschlich mich die Ahnung, dass die Strukturen in diesem idyllischen Dorf vermutlich komplizierter waren, als es auf den ersten Blick schien. Pilger auf dem Durchmarsch merken davon natürlich nichts und auch als Hospitalera auf Zeit würde ich eine Weile brauchen, bis ich einen gewissen Einblick in die Verwerfungen und Fallstricke des sozialen Geflechts bekäme.

 

Am nächsten Tag begann die Routine, die im Großen und Ganzen während meiner gesamten Zeit in Azofra gleich blieb. Roland stand früh auf, richtete in der Küche im Erdgeschoss das Frühstück für die Pilger und unterhielt sie, während sie es einnahmen, mit allerlei Sprüchen und Geschichten. Er hatte mich zwar an einem meiner ersten Morgen eingewiesen, wie das Frühstück zu machen sei, damit ich ihn gegebenenfalls vertreten könnte. Aber ich merkte schnell, dass er das im Grunde gar nicht wollte. Das Frühstück war seine Show, auf die er nur höchst ungern verzichtet hätte.

Seine Bewegungen, wie er das Brot auf dem altmodischen Grill toastete und mit Schwung ins Körbchen auf dem Tisch beförderte, wie er im hohen Bogen Kaffee nachgoss, zu seinen Geschichten gestikulierte und die graubraune Künstlermähne zurückwarf — das war geradezu eine Theatervorstellung. Ich hätte das nie so unterhaltsam hingekriegt, genauso wenig wie seine immer gleiche und stets beliebte Mahnung: „Deine Mutter hat angerufen und gesagt, ich soll dich hier nicht weglassen, bevor du mindestens 1500 Kalorien gefrühstückt hast.“

Wenn der letzte Pilger mit guten Ratschlägen und Bonmots auf den Weg geleitet worden war, schlossen wir die Herberge zu, tranken unsererseits noch einen Kaffee — und dann begann meine Show. Die allerdings vollzog sich ohne Publikum und den Applaus dafür bekam ich — wenn überhaupt — erst beim Einzug der neuen Pilger am Nachmittag, denn meine Show war das Herrichten der Albergue für die nächsten Gäste. Ich machte die Betten der Pilger, bezog sie, wenn nötig, frisch, leerte Abfalleimer, kehrte und wischte die Böden, putzte das Bad.

Es hatte schon etwas Kurioses an sich: Ich, die ich seit Jahren daheim eine Zugehfrau beschäftigte, fand es hier höchst befriedigend, genau die Arbeiten zu verrichten, die ich ansonsten von anderen für mich machen ließ, und war stolz, wenn Pilger sagten: „Das ist ja hier sauberer als in manchem Hotel.“

Meist war ich gegen zehn mit dem Reinemachen fertig. Roland, der sich währenddessen noch mal aufs Ohr gelegt hatte, stand wieder auf, und wir fuhren für gewöhnlich nach Nájera zum Einkaufen. Zwar hätten wir alles Notwendige auch in den Dorfläden bekommen, aber die Supermärkte der Stadt waren billiger.

Nach den Einkäufen nahmen wir entweder irgendwo einen Drink zu uns, bevor wir zurückfuhren, oder ich ging, während Roland schon heimfuhr, noch ein wenig Schaufensterbummeln und legte den Rückweg von Nájera zu Fuß zurück. Ich genoss diese sechs Kilometer auf dem Camino durch die Weinberge mit dem wunderbaren Blick über das weite Land, ein Vergnügen, noch dadurch erhöht, dass ich keinen Pilger-Rucksack zu schleppen brauchte.

Wenn ich „Zuhause“ ankam, hatte Roland für uns gekocht — schmackhaft und einfallsreich und immer mehrere Gänge, trotz meiner Proteste, ich wollte nicht gemästet werden. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass wir uns am Herd abwechseln würden, denn ich kochte auch sehr gern, doch ich schaffte es nur ein einziges Mal, ein Mittagessen zuzubereiten. Das schmeckte zwar lecker, wie Roland beinahe widerwillig zugeben musste, trotzdem wollte er sich die Lufthoheit über Töpfen und Pfannen nicht nehmen lassen — seine Show.

Nachdem er anschließend die Küche wieder sauber gemacht hatte, hielt Roland Siesta und um drei Uhr begann wiederum meine Show. Ich bezog Posten am Schreibtisch im Hausflur, wartete auf Pilger und wies sie, wenn sie denn kamen, in die Gepflogenheiten der Herberge ein.

Am Spätnachmittag leistete Roland mir entweder Gesellschaft oder verzog sich zu den Pilgern ins Wohnzimmer, wo er in sämtlichen nötigen Sprachen über das Leben im Allgemeinen und den Camino im Besonderen parlierte. Er wusste viel aus Geschichte und Gegenwart des Weges, konnte ungeheuer witzig sein und die Pilger liebten es, ihm zuzuhören.

„Den Camino kann man in drei Abschnitte unterteilen“, erklärte Roland gern. „Der erste geht von den Pyrenäen bis Burgos — das ist zum Eingewöhnen. Der zweite geht von Burgos bis León — da weiß man dann schon, auf was es beim Camino ankommt. Und hinter León nach Galicien hinein, da beginnt der Weg der Wunder.“

„Was für Wunder denn?“, lautete darauf regelmäßig die Frage.

„Tja“, meinte Roland gedehnt mit wissendem Lächeln. „Das muss jeder selbst herausfinden.“

Angesichts von Rolands Unterhaltungstalent fragte ich mich anfangs, was ich eigentlich den Pilgern bieten könnte — außer blitzblank geputzten Räumen, die sie aber nicht unbedingt meinen Aktivitäten zuschrieben. Doch es stellte sich rasch heraus, dass meine Zurückhaltung, mein freundliches Abwarten genau das waren, was eine Reihe von Pilgern wollten. Während Roland oben den Alleinunterhalter gab, setzte sich unten der ein oder andere zu mir in den Flur und suchte das Gespräch. Meist begann es mit der Frage, ob ich immer hier in Azofra sei und seit wann. Ich erklärte dann meinen Status und wenn sie in diesem Zusammenhang hörten, dass ich den Camino ein Jahr zuvor selbst gemacht hatte, begannen sie sich zu öffnen. Sie berichteten mir von ihren Erfahrungen — wie sie die Dinge um sich herum anders als sonst wahrnahmen und ihr Leben Zuhause aus verändertem Blickwinkel zu betrachten begannen. Vielen war es ähnlich ergangen wie mir seinerzeit; sie hatten ihre Pilgerreise nicht aus einem bestimmten Grund angetreten, sondern weil sie den dringenden Wunsch verspürten, ihn jetzt zu gehen, weil die Zeit dafür reif war. Nicht sie hatten sich für den Camino entschieden, vielmehr hatte dieser sie geradezu gerufen. Ursprünglich hatte ich mir vorgestellt, dass ich mit den Gästen der Herberge regelrecht Interviews machen würde zu ihren Beweggründen für die Pilgerreise, zu ihrer Meinung über die viel zitierte Magie des Camino. Angesichts des Vertrauens, das sie mir in meiner Funktion als Hospitalera entgegenbrachten, hätte ich das nun aber sehr unpassend gefunden und hielt mich deshalb zurück.

Ein junger Mann aus Toledo erzählte mir eines Abends sein ganzes Leben — in rasend schnellem Spanisch, sodass ich nur Bruchstücke verstand, aber irgendwann merkte ich, es kam ihm gar nicht darauf an, ob ich sämtliche Einzelheiten mitkriegte. Er wollte einfach das alles loswerden und es tat ihm gut, dafür ein Gegenüber zu haben.

Mir fiel in diesem Zusammenhang ein, wie der Schauspieler Larry Hagman einmal in einer Fernseh-Talkshow erzählte, dass er sich auf einer Wohltätigkeits-Veranstaltung als Zuhörer zur Verfügung gestellt habe. Die Menschen mussten ihm ein paar Dollar bezahlen und dafür konnten sie ihm zehn Minuten lang erzählen, was immer sie wollten. Ohne Fragen, ohne Kommentar hörte er ihnen einfach nur zu — und dafür gab es einen Riesenandrang. Offenbar haben auf dieser Welt viel zu viele Menschen niemanden, der ihnen wirklich zuhört.

Nicht nur für Pilger, auch für Roland übernahm ich oft die Rolle der Zuhörerin. Spätabends, wenn wir in der Küche saßen, Wein tranken und warteten, dass die letzten Pilger vom Essen kämen, damit wir das Haus zuschließen konnten, erzählte er gern von seinem Leben. Chaotisch und unzusammenhängend, von einem Thema zum anderen springend, warf er mir Puzzlestücke seiner Vergangenheit zu, die nicht einfach zusammenzusetzen waren, da er manches heute so und morgen so erzählte. Seine Geschichte konnte ich mir deshalb nur im Groben zusammenreimen.

In Deutschland geboren und aufgewachsen, war er viel in der Welt herumgekommen. Er hatte in der Touristikbranche gearbeitet, in verschiedenen Ländern gelebt und zuletzt ein Anwesen in Südfrankreich gehabt, das er verkaufte, um das Haus in Azofra zu erwerben. Seine Frauengeschichten — und davon gab es offenbar eine Menge — schienen stets nach dem gleichen Muster zu verlaufen. Wann immer es Probleme gab, machte sich Roland auf und davon, ein chronischer Flüchter, der lieber alles hinwarf, als sich Diskussionen zu stellen.

Im reifen Alter von Mitte fünfzig lernte er dann auf dem Jakobsweg seine (wieder einmal?) große Liebe kennen, eine Schweizerin, mit der er noch mal ganz neu beginnen wollte. Am Camino sollte er stattfinden, dieser Neuanfang, in einer kleinen Privatherberge, die sie beide gemeinsam führen würden. Dazu hatte Roland ein geeignetes Haus gesucht und es in Azofra gefunden. Als ich seinerzeit auf meiner Pilgerreise in seiner Albergue übernachtete, hatte er sich gegeben, als stünde die Ankunft seiner Freundin unmittelbar bevor, müsse sie lediglich noch ihren Haushalt in der Schweiz auflösen. Inzwischen sahen die Dinge anders aus. Roland war immer noch allein in Azofra, und es stand in den Sternen, ob seine Herzensdame jemals bei ihm einziehen würde. Denn Madame Suisse war anscheinend eine viel zu kluge Frau, als dass sie sich vom Sturm der ersten Verliebtheit zu vorschnellen Schritten hinreißen ließ. Deshalb war sie zwar ein paar Mal nach Azofra gekommen, um Roland zu unterstützen, doch sie löste mitnichten ihren schweizer Haushalt auf, sondern wollte wohl erst einmal abwarten, ob er tatsächlich das Herbergsprojekt durchziehen oder wieder bei Schwierigkeiten die Flucht ergreifen würde.

Schwierigkeiten hatte Roland, soweit ich das beobachten konnte, durchaus einige in diesem kleinen Dorf, obwohl er auf den ersten Blick dort recht gut hinzupassen schien. Mittelgroß, leicht wettergebräunt und stets in Hospitalero-Arbeitskluft — halblangen Hosen und Hemden aus fester Baumwolle — hätte man ihn durchaus für einen Einheimischen halten können und genauso gab er sich auch.

Doch wenn er in Begoñas Lokal kam und die alten Männer am Tresen mit einem jovialen „Hola tigres — hallo ihr Tiger!“ begrüßte, grinsten diese zwar geschmeichelt. Sie ließen sich auch gern mal von ihm auf eine Copa einladen oder gaben ihm selbst eine aus, aber er blieb ihnen in gewisser Weise suspekt. Denn er war ein Fremder, da konnte er noch so gut Spanisch sprechen, dazu einer, dessen Lebensumstände aus Sicht der Dorfbevölkerung recht befremdlich schienen. Wieso hatte dieser Mann keine Frau und keine Familie? Warum hatte er als Deutscher ausgerechnet in Azofra eine Herberge aufgemacht — und was geschah in diesem Haus, nachts, wenn die Türen zu waren? Machte er sich etwa an Pilgerinnen heran? Solche Fragen, verstohlen getuschelt oder zuweilen auch offen an Roland gestellt, wischte dieser mit einer lässigen Handbewegung oder einem derben Spruch beiseite. Die Vorbehalte ihm gegenüber räumte er damit natürlich nicht aus.

Außerdem vermutete ich, dass Roland manchen im Dorf vor den Kopf gestoßen hatte. Mit seinen locker-lustigen Sprüchen konnte er zuweilen auch recht verletzend sein oder die Höflichkeitsgrenze überschreiten, ohne es zu merken. Freundliche Seelen wie Begoña und Enrique sahen ihm das nach, weil sie wussten, dass er es nicht wirklich böse meinte. Andere nahmen es ihm auf lange Sicht übel und zahlten es ihm auf ihre Weise heim, indem sie gegenüber Pilgern die Existenz der Privatherberge leugneten oder sie davor warnten, dort abzusteigen.

Generell haben Privatherbergen entlang des Camino keinen leichten Stand.

Anders als die kommunalen oder die Pfarrherbergen müssen sie sich vollkommen selbst tragen, bekommen keine Unterstützung von Gemeinde, Kirche oder irgendeiner Jakobusgesellschaft. Doch trotz knapper Kalkulation und — nach meiner Erfahrung — durchaus angemessenen Preisen sehen sie sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt, Pilger „abzocken“ zu wollen.

In Azofra hatte ich einen groben Einblick in die Finanzlage der Herberge. Rund 650 Pilger, erzählte mir Roland, seien im ersten Jahr bei ihm abgestiegen. Hochgerechnet mit acht Euro pro Person ergab das eine Brutto-Jahreseinnahme von 5.200 Euro, der erhebliche Investitionen und Kosten gegenüberstanden. Das entsprach wahrhaftig nicht der viel zitierten „goldenen Nase“, die Privatherbergen sich angeblich verdienten.

Dennoch gibt es kirchliche Stellen und Gemeinden, die den Standpunkt vertreten, nur ihnen stünde es traditionell zu, Pilger zu beherbergen, weil privat betriebene Albergues der Kommerzialisierung des Camino Vorschub leisteten. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass mit dem Jakobsweg von Anfang an auch wirtschaftliche Aspekte verbunden gewesen waren, dass Handel und Pilgerfahrt sich gegenseitig förderten und manche Orte nur deshalb blühten, weil zahllose Pilger auf der Durchreise hier Geld ließen. Obwohl heutzutage kirchliche und kommunale Herbergen allein dem ständig wachsenden Bedarf an Pilgerunterkünften kaum nachkommen könnten, werden den Betreibern privater Albergues mancherlei Steine in den Weg gelegt.

Um ihre Position bei rechtlichen Fragen und anderen Problemen zu stärken, schlossen sich deshalb Anfang dieses Jahrtausends eine Reihe von Privatherbergen zu einem Netzwerk zusammen, dem Red de Albergues Camino de Santiago. Gemeinsam gaben sie ein Verzeichnis sämtlicher — nicht nur der privaten — Herbergen am Camino heraus, mit detaillierten Entfernungsangaben und Informationen über Serviceeinrichtungen entlang der Route. Diese Liste war so gut, dass sie auch in vielen öffentlichen Herbergen auslag — nachdem man vorher den Urheber mit Tipp-Ex überpinselt hatte.

Zentrale des Netzwerkes war damals die Privatherberge von Ventosa, auf dem Camino fünfzehn Kilometer vor Azofra gelegen. Ab und zu fuhren wir dorthin, um Nachschub an Verzeichnissen zu holen, oder einfach nur, um die Kollegen zu besuchen und die neuesten Camino-Geschichten auszutauschen. Schon als Pilgerin war mir aufgefallen, wie schnell sich Nachrichten entlang des Weges verbreiteten, fast als gäbe es Buschtrommeln wie im alten Afrika. Besonders gern wurden diese Camino-Trommeln für Klatsch und Tratsch benutzt, zuweilen kam es mir geradezu vor, als sei der Jakobsweg eine 750 Kilometer lange Gerüchteküche.

 

Anders als in öffentlichen Herbergen werden in den privaten aus wirtschaftlichen Gründen die Regeln für die Betten-Belegung meist lockerer gehandhabt. Wenn ein Pilger von unterwegs anrief und seine Ankunft für den Abend ankündigte, reservierten wir ihm ein Bett, sofern eins frei war, und einzelne Radfahrer, Gruppen allerdings nicht, durften schon früher als erst spätabends einchecken. Ging es aber darum, ob Pilger länger als eine Nacht bleiben durften, hatte Roland keine klare Linie, was es für mich nicht einfach machte; ich konnte nie voraussehen, wie er entscheiden würde.

Einem älteren deutschen Männerpaar, geistreich, witzig und unterhaltsam, bot Roland von sich aus an, länger zu bleiben, damit sie ohne Stress Tagesausflüge zu den Klöstern Cañas und San Millán abseits des Jakobsweges machen konnten. Bei anderen Pilgern wiederum blieb er aus unerfindlichen Gründen unerbittlich, was ich im Falle von Guiseppe direkt absurd fand.

Guiseppe war ein äußerst sympathischer Italiener — alleinstehend, gut aussehend, wenn auch ohne Latifundien in Brasilien, aber im passenden Alter und auf unaufdringliche Weise sehr an mir interessiert. Er hatte eine schlimme Sehnenentzündung und bat Roland deshalb um eine zweite Übernachtung für einen Rasttag. Diese Marschpause wäre nicht nur sinnvoll gewesen, sondern hätte sogar den strengen offiziellen Herbergsregeln entsprochen, die Kranken eine zweite Nacht am selben Ort zubilligten.

Doch Roland ließ nicht mit sich reden. „Dies ist eine Pilgerherberge und deshalb darf hier jeder nur eine Nacht bleiben, beschied er und schickte den armen Guiseppe am nächsten Morgen wieder auf den Camino, obwohl er kaum gehen konnte.

In doppelter Hinsicht bedauernd schaute ich ihm hinterher. Sollte da etwa Eifersucht bei Roland im Spiel gewesen sein? Ich schob diesen Gedanken beiseite — Quatsch. Ausgehend von den Fotos seiner zahlreichen Verflossenen, die er mir gezeigt hatte, war ich überhaupt nicht sein Typ und er im übrigen auch nicht meiner. Vermutlich hatte er lediglich aus einem Reflex heraus Platzhirschgebaren gezeigt — albern, aber nicht mehr zu ändern.

Viel Zeit für solche Überlegungen hatte ich ohnehin nicht, denn obwohl es Mai und damit eigentlich Vorsaison war, herrschte Hochbetrieb auf dem Camino. Ab frühmorgens hörte man das typische Klack-Klack der Wanderstöcke auf der Straße und es riss bis abends nicht ab. Manchmal standen schon, wenn wir aus Nájera zurückkamen, Rucksäcke in Wartereihe vor der Tür, während ihre Besitzer in der Bar Sevilla auf unsere Ankunft warteten.

„Ein merkwürdiges Jahr ist das heuer“, bestätigten sich Roland und Begoña des öfteren gegenseitig, „schon jetzt so ein Betrieb wie im Sommer! Wie soll das erst im Juli und August werden?“ Die Herberge war fast täglich bis auf den letzten Platz besetzt und gelegentlich funktionierten wir sogar den Treppenabsatz zum Speicher mit einer Matratze als Notlager für einzelne Pilger oder Pärchen um. Zur Regel wollte Roland die Belegung dieses provisorischen Lagers allerdings nicht machen. „Wir haben schließlich nur ein Badezimmer für die Pilger, da wird es schon bei zwölf Personen eng. Auf den Treppenabsatz kommen deshalb nur nette Leute, die nicht so aussehen als würden sie Probleme machen.“

Doch wer nett war und wer Probleme machen würde, ließ sich auf den ersten Blick selten eindeutig feststellen. Außerdem klafften Rolands und meine Vorstellungen von dem „idealen Gast“ ohnehin auseinander. Roland bevorzugte gesetzte ältere Pilger.

„Die wissen viel mehr zu schätzen, was ihnen hier geboten wird. Außerdem sind sie finanziell besser gestellt und da gibt es keine Diskussionen ums Geld“, behauptete er.

Ich hingegen hatte es gern, wenn das Haus voll junger Leute war, fand, dass es dann meist lustiger zuging — und was die Diskussion ums Geld betraf, so war sie nach meinen Erfahrungen an der Pforte keineswegs auf eine Altersklasse beschränkt. Vom Alter unabhängig war es auch, ob Pilger zu schätzen wussten oder nicht, was ihnen in Rolands kleiner Privatherberge geboten wurde.

„Ah, ist das toll hier“, seufzte eine junge Holländerin, nachdem sie andächtig durch das Treppenhaus mit den hübschen kleinen Stichen und Gemälden an den Wänden hinaufgestiegen war, einen Blick in das gemütliche Wohnzimmer geworfen hatte und sich mit wohligem Schnauben auf ihr frisch bezogenes Einzelbett fallen ließ.

Ein älterer Amerikaner hingegen stapfte, ohne rechts und links zu blicken, die Treppe hinauf, hebelte dabei mit seinem Rucksack eines der Bilder vom Nagel, sodass es auf den Boden fiel und zerbarst. Für den Schaden legte er später zwei Euro auf den Küchentisch, was Roland als Beleidigung empfand.

„In jedem Hotel hätte der Kerl sich geschämt, weniger als 50 Euro für das kaputte Bild anzubieten“, erboste er sich. „Aber in einer Herberge denkt er, kann er’s machen.“

Es folgte ein Monolog, den ich bereits kannte, des Inhalts, dass er — Roland — hier etwas ganz besonderes zu bieten versuchte, persönliche Atmosphäre, auch von der Ausgestaltung her, und wer das nicht zu schätzen wisse, den wolle er gar nicht im Haus haben.

„Vielleicht erwartest du zu viel von den Pilgern“, suchte ich ihn zu besänftigen. „Schau mal, wenn die hier ankommen, sind sie schon über eine Woche auf dem Camino, wenn nicht noch länger. Da wildern die einfach aus und nehmen manches gar nicht mehr so richtig wahr, weil sie ganz auf ihre unmittelbaren Bedürfnisse reduziert sind — Rucksack abstellen, duschen, was essen, schlafen. Alles andere ist nur Beiwerk. Vielleicht solltest du einfach von deinem Anspruch ein bisschen Abstriche machen.“

„Bevor ich von meinem Anspruch runtergehe, mache ich den Laden hier dicht“, schnaubte Roland und verzog sich auf ein paar Copas in Begoñas Lokal.

Wahrscheinlich hätte Roland besser daran getan, eine kleine feine Pension für ausgesuchte Gäste aufzumachen. Damit wäre ihm mancher Frust erspart geblieben und er hätte sich der Anerkennung sicher sein können, die er so dringend suchte. Aber nein, es sollte ja unbedingt eine Pilgerherberge sein. Über das, was ich „Auswildern“ nannte, die Rückentwicklung sesshafter Bürger zu Nomaden auf Zeit mit allen dazugehörigen Unsitten, machte ich mir nicht erst Gedanken, seit ich dessen Auswirkungen beim Saubermachen der Pilgerzimmer unmittelbar mitbekam.

Es ist mir heute noch peinlich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich seinerzeit als Pilgerin in einem gediegenen Restaurant einfach meine Wanderstiefel auszog, die Socken darüber legte und meine nackten Füße auf den Steinboden stellte. Im Normalalltag Zuhause wäre ich nie und nimmer auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Aber hier als Pilgerin folgte ich, ohne nachzudenken, meinen unmittelbaren Bedürfnissen: Wanderpause — heiße Füße kühlen.

Auch die Pilger in der Herberge gingen ihren spontanen Bedürfnissen nach, ohne nachzudenken. Im Bett sitzend verarzteten sie ihre Blasen mit Jod, rieben sich mit Massageöl ein, aßen Schokolade und schmierten Kugelschreiber über die Ränder ihrer Tagebücher hinaus — alles Aktionen, deren Spuren auf den Laken sich nur schwer oder gar nicht mehr entfernen ließen.

Na, was mögen sie heute wieder angestellt haben, dachte ich allmorgendlich und war richtig froh, wenn ich nur Brotkrümel oder gebrauchte Papiertaschentücher in den Betten fand. Zur Ehrenrettung muss ich allerdings sagen, dass es auch eine ganze Reihe Übernachtungsgäste in der Herberge gab, die ihre Laken morgens selber glatt zogen und alles einwandfrei hinterließen. Das versöhnte mich jedes Mal wieder mit der Pilgerschaft insgesamt und ließ mich Ausrutscher lockerer sehen.

Roland hingegen konnte Ausrutscher oft nicht auf die leichte Schulter nehmen, was unter anderem sicherlich daran lag, dass er das ganze Jahr über als Hospitalero den verschiedensten Anforderungen und Belastungen ausgesetzt war, ich hingegen als freiwillige Helferin nur für eine begrenzte Zeit. Hinzu kam, dass in der Herberge nicht nur Pilger untergebracht wurden, sondern Roland zugleich dort wohnte. Außer seinem Schlafzimmer und dem Bad hinter der Küche, das er nur seiner (und meiner) Benutzung vorbehielt, hatte er keine Privaträume. Persönliche und öffentliche Nutzung des Hauses gingen fließend ineinander über, Konflikte waren damit im Grunde vorprogrammiert.

So kam es bald darauf wieder mal zu einem Eklat, als ein Pilger aus Rolands bevorzugter Altersklasse nachts seine Matratze, um einem schnarchenden Zimmergenossen zu entgehen, ins Wohnzimmer zog und dabei Rolands Kerzenturm zu Fall brachte.

Der arme Mann konnte froh sein, dass er am anderen Morgen für diese Untat nicht gelyncht, sondern nur unter heftigen Vorwürfen des Hauses verwiesen wurde.

„Monatelang habe ich diesen Kerzenturm hochgezogen, das war ein Kunstwerk — und der Kerl haut das einfach um“, ereiferte sich Roland später, nachdem alle Pilger längst abgezogen waren und er mir in der Küche das Vergehen im Einzelnen auseinandersetzte.

„Und die Matratze einfach über den Boden schleifen — womöglich ist jetzt der Bezug beschädigt! Schließlich ist das nicht irgendein billiges Schaumstoffding, sondern eine Federkernmatratze.“

Ich versuchte, ein gutes Wort für den Pilger einzulegen, obwohl der im Nachhinein nichts mehr davon hatte. „Das konnte er doch nicht wissen. Meine Güte, er war einfach todmüde, konnte wegen dem Schnarcher nicht schlafen, und hat sich einen ruhigen Platz gesucht. Ist das nicht irgendwie nachvollziehbar?“

Für Roland war es das nicht oder falls doch, wollte er es nicht zugeben und dem Kerzenbrecher lieber noch eine Weile gram sein.

Bei anderen Gelegenheiten konnte Roland allerdings auch erstaunlich viel Langmut und Nachsicht zeigen, offenbar hing das von seiner Tagesform ab oder zuweilen vom Geschlecht der Pilger.

Überaus geduldig zeigte er sich beispielsweise gegenüber einer Engländerin Anfang dreißig, die abends ihr Frühstück nachdrücklich für fünf Uhr bestellt hatte, in der Früh aber, ohne sich zu entschuldigen, erst um sechs erschienen war. Dann hielt sie ihm einen Vortrag über die korrekte Zubereitung von Kakao, gefolgt von einem längeren Diskurs darüber, dass es in keinem Land dieser Welt — außer in England natürlich — ein vernünftiges Frühstück gebe. Während dieser Ausführungen hatte sie sich genüsslich ein lecker duftendes Toastbrötchen dick mit Butter und Marmelade nach dem anderen genehmigt.

„Und was hast du zu ihr gesagt?“, wollte ich wissen, nachdem Roland mir von alledem berichtet hatte.

„Nichts. Das arme Ding ist schon gestraft genug“, meinte er ungewöhnlich einfühlsam. „Das ist eines von diesen frustrierten Mädels, denen irgendwer oder irgendwas im Leben übel mitgespielt hat. Das hat sie noch nicht überwunden, steht sich selbst im Weg und lässt ihren Frust an der falschen Stelle raus.“

Nachsichtig war er auch mit einer älteren Französin, die ihn morgens um vier aus dem Bett klingelte, weil sie nach dem Abendessen statt in die Herberge zurückzukehren, sich mit einem Pilgerkollegen aus der Pfarrherberge noch diverse Absacker genehmigt und dabei festdiskutiert hatte.

„Die haben die ganze Nacht auf dem Barbier-von-Sevilla-Platz gesessen und zwar genau unter meinem Fenster“, erzählte Roland später. „Sie haben über das Leben als solches geredet und über was weiß ich nicht alles philosophiert und wie eine Platte mit Sprung hat er immer wieder zu ihr gesagt: Auch du hast das Recht, glücklich zu sein, auch du!“

Als dem irgendwann nichts mehr hinzuzufügen war, hatte jeder seine Unterkunft angepeilt, und mit einem „Ich bin — hick — okay“ war die Französin an dem besorgt-entgeisterten Roland, der ihr die Tür geöffnet hatte, vorbei die Treppe hinauf gewankt.

Nach nur zwei Stunden Schlaf war sie erstaunlich frisch und wohlgemut in der Küche zum Frühstück erschienen und zwar ohne ihre bisherigen Begleiterinnen, ohne die sie sich nun auch auf den Weg machen wollte.

„Die haben mich doch bloß immer gegängelt“, sagte sie und brach auf, um endlich glücklich zu sein, wie es ihr Recht war. „Eigentlich eine hübsche Geschichte“, meinte ich dazu. „Finde ich auch“, sagte Roland, „und darauf trinken wir jetzt einen bei Begoña.“

 

Die Pilger, die bei uns abstiegen, waren so unterschiedlich wie das Leben selbst. Ein Phänomen war jedoch häufig zu beobachten: die „Scheinfamilien“, die miteinander unterwegs waren. Junge Frauen gingen den Camino mit älteren, die ihre Mutter sein könnten, ältere Männer waren begleitet von jüngeren im Sohnesalter. Dabei handelte es sich keineswegs um gleichgeschlechtliche Paare, die Beziehung dieser Wandergefährten war vielmehr von einem Eltern-Kind-Verhältnis geprägt.

„Ist doch merkwürdig oder?“, sagte ich zu Anne und Alexandra, zwei allerdings gleichaltrigen Pilgerinnen aus Ostdeutschland, nachdem ich ihnen meine Beobachtungen geschildert hatte.

„Das ist keineswegs merkwürdig“, erklärte Anne, die — wie sich herausstellte — Psychologin war. „Schau, auf dem Camino kommen bei jedem, ob er will oder nicht, die Themen hoch, die sein Leben bestimmen. Und die Eltern-Kind-Auseinandersetzung ist schließlich eines der ganz großen Themen bei sehr vielen Menschen. Das versuchen sie nun — quasi stellvertretend — mit Ersatzeltern oder Ersatzkindern zu bearbeiten.“

„Der Camino gibt jedem das, was er braucht“, zitierte ich eine der zahlreichen Jakobsweg-Weisheiten, „selbst wenn man meint, genau das nicht zu brauchen.“

Ich erinnerte mich dabei an meine erste Begegnung mit David, ganz zu Anfang meines Camino im Hof der Herberge von Hunto. Mit strahlendem Lächeln war er auf mich zugekommen, wollte sich mit mir unterhalten und ich dachte nur abwehrend: Dieser Blondschopf, der aussieht wie der Leadsänger einer irischen Boygroup, ist jetzt wirklich das Letzte, was ich brauchen kann.

Tatsächlich war er genau das, was ich brauchte — und umgekehrt. Als Einzelkind aufgewachsen fand ich in ihm für die Dauer des Camino den Bruder, den ich mir immer sehnlichst gewünscht hatte — und ihm, der seine zahlreichen Geschwister sehr vermisste, ersetzte ich wenigstens eine seiner Schwestern. Wir wurden einander so vertraut, als wären wir tatsächlich zusammen groß geworden, führten Gespräche, die nur wir miteinander führen konnten, und da wir in vielerlei Hinsicht sehr gegensätzlich waren, lernten wir eine Menge voneinander.

„Wenn der Camino jedem gibt, was er braucht, dann ist es ja nicht weiter verwunderlich, dass sich immer die richtigen finden“, meinte Anne und holte mich damit wieder in die Gegenwart zurück.

Wir führten unsere Unterhaltung in Begoñas Lokal, wohin wir geflüchtet waren, denn in der Herberge war der Teufel los oder, um genau zu sein, die Großväter waren los.

Gegen Mittag hatte ein Spanier angerufen und darum gebeten, für ihn und seine Mitpilger Betten frei zu halten. Sie seien überwiegend ältere Leute und machten sich jetzt in Ventosa auf den Weg. Verblüffend schnell waren sie angekommen, vier Abuelos, Spanier im Großvater-Alter, mit einem jungen Argentinier und einem jungen US-Amerikaner als Ersatz-Enkel im Schlepptau. Sie bezogen ihre Zimmer und begannen Unmengen an Ausrüstung herein zu tragen: Töpfe, Pfannen, Weinflaschen, Kisten mit Lebensmitteln — kein Wunder, dass sie so schnell angekommen waren, sie mussten mindestens ein, eher zwei Begleitfahrzeuge dabei haben — und setzten an zum Generalangriff auf die Küche. „Tut mir Leid, aber Sie können hier nicht kochen“, ging Roland dazwischen. „Das ist unsere private Küche. Darin servieren wir zwar morgens das Frühstück, aber sie ist nicht dafür ausgerüstet, dass die Pilger hier kochen.“

„Wir haben unsere eigene Ausrüstung dabei, das sehen Sie doch.“

„Trotzdem können Sie hier nicht kochen, denn wenn Sie das tun, dann müssen wir das anderen Pilgern ebenfalls gestatten und dafür ist die Küche definitiv zu klein. ‘

Um den streitlustigen Abuelos, die sich bereits für weitere Auseinandersetzungen formierten, entgegenzukommen, arrangierte Roland in Windeseile mit Hilfe von Enrique eine Ausweichlösung. Einer der Dorfbewohner hatte eine Art Schrebergarten mit Grillplatz, dort konnte die Gruppe ihr Fleisch braten und gemütlich unter blühenden Bäumen verzehren. Am Abend begann der Ärger aufs Neue. Roland und ich räumten gerade unser Abendbrot-Geschirr zusammen, da stürmten die Großväter erneut die Küche und ließen sich diesmal auf keine Diskussionen ein.

„Wir kochen nicht, wir machen nur Salate — das wird ja wohl gehen. Wir sind echte Pilger und bereiten deshalb immer unser Essen selbst zu.“

Nun ist die Selbstverpflegung keineswegs eine notwendige Voraussetzung für echtes Pilgertum — als wahre Jakobspilger gelten vielmehr gemeinhin diejenigen, die den gesamten Camino aus eigener Muskelkraft bewältigen, sei es zu Fuß, Fahrrad oder Pferd. Aber darüber mit den Auto fahrenden Abuelos diskutieren zu wollen, war sinnlos.

Wir wichen der Ellenbogen-Gewalt — ich, indem ich mich mit Anne und Alexandra zu Begoña verzog und Roland, indem er auf den Opernkulissen-Platz stürmte. Dort sahen wir ihn vom Lokal aus Kreise und Achten gehen und heftig gestikulierend Selbstgespräche führen. Später kam er herein und ließ sich mit einer Copa in der Hand auf einen Stuhl neben uns fallen.

„Wehr dich, Roland“, sagte Anne. „Lass deine Wut nicht auf dem Platz da draußen aus, sondern an denjenigen, denen sie gilt.“

„Es hat keinen Zweck, ich kann nicht mit denen diskutieren.“

„Dann schmeiß sie ohne Diskussion raus. Wir haben die Kerle schon in mehreren Herbergen getroffen und überall war es das gleiche. Sie walzen rein wie ein Rollkommando, respektieren keine Grenzen, nehmen keinerlei Rücksicht auf andere.“

Aber Roland schüttelte nur müde den Kopf und bestellte einen weiteren Wein. „Was soll’s? Morgen sind sie ohnehin weg.“ Die kämpferische Anne wollte die Sache jedoch nicht so ohne weiteres auf sich beruhen lassen und als der junge Amerikaner aus der Großvater-Truppe ins Lokal kam, knöpfte sie ihn sich vor.

„Warum bist du mit diesen Typen unterwegs?“

„Nun ja“, meinte er, ein wenig verlegen ob der Auftritte in der Küche, „ich möchte halt das richtige Spanien kennen lernen und deshalb dachte ich, ich sollte mit Spaniern unterwegs sein.“

„Aber diese Großväter sind verknöcherte alte Holzköpfe, die verkörpern ein Spanien, das es bald gar nicht mehr gibt. Warum gehst du nicht mit jungen Spaniern, damit du das moderne Spanien kennen lernst?“

Er wand sich, fand keine Antwort. Vermutlich fütterten die Großväter ihre Ersatz-Enkel durch und das wollte er nicht zugeben.

„Drei Kreuze schlag ich, dass, die weg sind“, seufzte Roland am anderen Morgen und setzte hinzu: „Siehst du, das ist das Gute in so einer Herberge — wenn unangenehme Pilger kommen, braucht man sich im Grunde gar nicht aufzuregen, man weiß genau, sie bleiben ohnehin nur eine Nacht.“ Aber für die angenehmen, netten Pilger galt das ebenso und das war das Bittersüße am Hospitalera-Job. Ich lernte in der Herberge viele liebenswerte, interessante Menschen kennen, begann sie zu mögen — und am nächsten Morgen gingen sie auf Nimmerwiedersehen davon. Und anders als seinerzeit als Pilgerin hatte ich keine Chance, sie irgendwo entlang des Camino wiederzutreffen, denn ich blieb schließlich am Ort. Umso mehr freute ich mich, als eines Abends Castor und Pollux, ein korsisches Pilgerpaar, das Roland und ich besonders ins Herz geschlossen hatte, erneut vor der Türe stand. Den Spitznamen hatten wir ihnen verpasst, weil er tatsächlich Castor hieß, sie Astrologin war und sich beide unzertrennlich wie das Zwillingsgestirn gaben.

„Da sind wir wieder! Wir wollten auch auf dem Rückweg hier in dieser hübschen Herberge übernachten.“

„Wie — ihr ward schon in Santiago?“

„Nein, das kommt erst nächstes Jahr. Wir haben nicht so viel Urlaub und legen den Jakobsweg deshalb in mehreren Jahres-Etappen zurück.“

An diesem Wiedersehensabend, den wir mit Wein bei Kerzenschein feierten, erzählten Castor und Pollux, dass sie nach Santiago pilgerten, um für die Rettung von Castors Leben zu danken. Beinahe wäre er von einem wildgewordenen Stier getötet worden, doch der Hund des Paares ging mutig dazwischen, attackierte den Stier und lenkte ihn ab, so dass der schwer verletzte Castor in Sicherheit gebracht werden konnte. Aus Dankbarkeit hatten sie den treuen Hund ebenfalls mit auf die Pilgerreise genommen und er marschierte mit Pollux die vollen Etappen, während Castor, seit dem Stier-Angriff nicht mehr gut zu Fuß, nur kurze Strecken ging und ansonsten den beiden mit dem Auto folgte.

Der ruhige, humorvolle Castor und die charmante, hübsche Pollux waren bereits bei ihrem ersten Aufenthalt in der Herberge derart liebevoll miteinander umgegangen, dass es Freude machte, sie zu beobachten. Nun auf dem Rückweg wirkten sie — obwohl schon seit zwölf Jahren zusammen — wie ein junges Paar in den Flitterwochen. Es schien, als habe der gemeinsame Jakobsweg ihrer Beziehung zusätzliche Innigkeit gegeben.

Wie schön, dachte ich. Auf meiner eigenen Pilgerreise hatte ich gesehen, dass das keineswegs bei allen Paaren auf dem Camino der Fall war.

 

Die Tage gingen dahin wie fließendes Wasser, Geschichten, die heute relevant waren, wurden morgen von neuen überlagert, und oft kriegte ich nicht mehr zusammen, was vorgestern gewesen war.

„Ich verstehe das nicht“, meinte ich in einer ruhigen Minute zu Roland. „Die Arbeit hier ist eigentlich nicht hart, ich bekomme genug Schlaf — warum empfinde ich das alles als derart anstrengend?“

„Das ist dieser ständige Wechsel, sich jeden Tag auf neue Leute einstellen — da merkst du mal, wie das ist. Und du machst diesen Job jetzt mal für zwei Wochen, ich hingegen bin das ganze Jahr Hospitalero. Verstehst du nun, warum mir manchmal die Nerven durchgehen?“

Ich nickte und tat ihm im Stillen Abbitte, was mir umso leichter fiel, als mich seine cholerischen Ausraster nicht trafen. Eigentlich kamen wir sehr gut miteinander aus. Roland war zwar de facto mein Chef, aber er ließ das — mal abgesehen von seiner Bevormundung am Mittagstisch — nicht heraushängen und sofern ihm nicht gerade jemand quer kam, war er ein großartiger Hospitalero. Wir gingen kameradschaftlich miteinander um und hatten die Kompetenzen sinnfällig aufgeteilt. Außerdem achtete Roland darauf, dass trotz Arbeit und Stress Spaß und Vergnügen nicht zu kurz kamen. Gelegentlich fuhren wir übers Land oder in die Städte in der näheren und weiteren Umgebung, aßen auswärts und öffneten die Herberge dann halt etwas später. Mehrmals täglich schoben wir — jeder für sich oder gemeinsam — eine Kaffee- oder Weinpause mit ausgiebigem Schwatz an Begoñas Tresen ein und jeden Abend nahm ich mir eine Auszeit für einen Spaziergang durch die Felder hinterm Dorf, diese wundervolle weite Landschaft, die mir immer besser gefiel. Würde ich hier leben können, überlegte ich mir dabei manchmal. Ein paar hundert Meter außerhalb von Azofra stand am Camino ein kleines Bauernhaus zum Verkauf an. Um dieses niedliche Häuschen herum spann ich gern Phantasien, stellte mir vor, dort ein Frühstückscafe einzurichten oder ein vegetarisches Restaurant...

Der Bedarf an Gastlichkeit war schließlich groß am Jakobsweg. „Kochst du eigentlich noch manchmal abends für die Pilger?“, fragte ich Roland irgendwann. Weil er mich und meine Wandergefährten seinerzeit bewirtet hatte, glaubte ich, er täte das regelmäßig und wunderte mich nun, dass es nicht der Fall war.

„Ich würde sehr gerne hier öfters was kochen für die Leute in der Herberge“, meinte Roland und zog eine bedauernde Grimasse. „Aber dann würde ich es mir mit Begoña verderben, weil ich ihr Konkurrenz machte.“

„Und was ist mit dem Frühstück? Damit machst du ihr doch auch Konkurrenz.“

„Nicht unbedingt, denn das serviere ich meistens früher, als sie überhaupt aufmacht.“

Wenn Pilger fragten, wo sie gut essen könnten, empfahl ihnen Roland grundsätzlich die Bar Sevilla, obwohl es noch ein zweites Restaurant im Ort gab. Zunächst dachte ich, das geschehe aus purer Sympathie für Begoña, bis ich erfuhr, dass Roland sich mit Vega, der Besitzerin des anderen Lokals, schon vor längerem überworfen hatte.

Laut Roland hatte ihm Vega, als er die Herberge aufmachte, Provision angeboten, wenn er seine Pilger zu ihr zum Essen schickte. So etwas ist in Spanien vielerorts durchaus üblich. Doch er hatte Vegas Offerte mit einem derben Spruch abgelehnt und sie damit anscheinend zutiefst beleidigt, denn seither ließ sie angeblich keine Gelegenheit aus, gegen ihn zu sticheln.

Ob sonst noch etwas vorgefallen war und woher das distanzierte Verhältnis zwischen Vega und Begoña kam, erfuhr ich nicht. Begoña zuckte nur die Achseln, als ich sie danach fragte: „Das ist halt so.“

Beide Lokale lagen an dem großen Platz, wobei sich Vegas Restaurant im Souterrain eines Hauses befand und man den halben Platz überqueren musste, um es zu erreichen. Für das Betreten von Begoñas direkt am Camino gelegener Bar Sevilla .hingegen genügte ein simpler ebenerdiger Einkehrschwung. Lag es an diesen ungleichen Voraussetzungen, dass ein unsichtbarer Schützengraben zwischen beiden Lokalen zu verlaufen schien? Führte das Geschäft, das mit Pilgern zu machen war, unweigerlich zu Konkurrenzverhalten, Neid und Missgunst?

Einmal hatte Vega versucht, ihren Standortnachteil auszugleichen, indem sie im Freien vor ihrem Lokal Tische und Stühle aufstellte. Schon am Mittag desselben Tages musste sie diese aber wieder entfernen.

Die Plaza de España sei ein öffentlicher Platz und nicht Teil eines Restaurants, hatte ihr der Bürgermeister, assistiert von Ordnungskräften des Dorfes, unerbittlich erklärt. Diesen Auftritt verpasste ich zwar, weil ich zu der Zeit gerade wieder einmal auf dem Rückweg von Nájera war, aber Roland hielt mich per Mobiltelefon auf dem Laufenden.

„Jetzt haben wir sie — die große Szene auf dem Barbier-von-Sevilla-Platz, die ich dir immer angekündigt habe“, teilte er mir begeistert mit. „Das ist wie in einer Oper — nein einer Operette oder — noch besser — wie in einer Burleske.“

Mir tat Vega fast ein bisschen Leid und da ich persönlich mit ihr weder positiv noch negativ in Berührung gekommen war, beschloss ich, mich aus alledem herauszuhalten. Deshalb verwies ich, wenn Pilger mich nach einem guten Restaurant fragten, trotz meiner Freundschaft zu Begoña auf beide Lokale: „Vergleicht einfach die Speisekarten, welche euch besser gefällt.“

 

Obwohl die Gastfreundschaft der Herberge tunlichst dort aufhören sollte, wo sie das Geschäft anderer berührte, kochte Roland dennoch ab und zu für Pilger, die ihm besonders sympathisch waren, Paella, jene köstliche spanische Reispfanne, die er damals für mich und meine Wandergefährten zubereitet hatte.

Auch sonst gab es gastliche, meist recht weinselige Runden innerhalb und außerhalb des Hauses. Wenn wir in der Bar Sevilla einen Aperitif zu uns nahmen und Gäste aus der Herberge hinzukamen, luden wir sie gern auf ein Glas ein. Oder Enrique brachte Radieschen von seinen Feldern mit, die wir in kleiner Gruppe am Brunnen sitzend verzehrten und mit dem guten Rioja aus Begoñas Bar nachspülten.

Oft hockten wir abends mit Pilgern, wenn sie vom Essen zurückkamen, bis spät in die Nacht hinein in der Küche und führten mehr oder weniger tiefschürfende Gespräche bei Wein, Oliven, Käse oder was wir sonst gerade da hatten. Dabei fiel mir auf, dass die meisten diese Bewirtung als selbstverständlich hinnahmen, überhaupt nicht auf die Idee kamen, etwas dazu beizutragen. Einmal tat sich eine ältere Deutsche an unserem Keksvorrat gütlich, bis die Dose leer war.

„Hat sie eigentlich, bevor sie weg ist, was neben ihren Frühstücksteller gelegt?“, fragte ich Roland am anderen Morgen. Statt einer Antwort blies er nur die Backen auf. „Manchmal könnte man richtig die Lust verlieren, großzügig zu sein. Ich will nicht jeden Wein und jede Olive aufrechnen, aber irgendwie muss das Ganze doch in einem gewissen Rahmen bleiben.“ Zum Glück gab es Pilger, die sehr wohl die spezielle Gastfreundschaft in Rolands Herberge zu würdigen wussten und sie entsprechend vergalten. Ein Wiener alter Schule zum Beispiel verabschiedete sich von mir mit angedeutetem Handkuss, von Roland mit tiefer Verbeugung, und überreichte uns eine Flasche Wein: „Trinkt’s die auf mein Wohl. Ich dank euch schön für alles.“

Auch Tom Cruise gehörte zu denen, die wussten was sich gehörte — nicht der Echte natürlich, sondern ein kleiner drahtiger Australier, der wie eine blonde Jugendausgabe des berühmten US-Filmstars aussah. Seinen Spitznamen fand er großartig und gab sich entsprechend und verbreitete außerdem gute Laune in der gesamten Herberge. In der Bar Sevilla gesellte er sich später mit einigen anderen jungen Leuten zu Roland, Enrique und mir, wobei er sorgfähig darauf achtete, dass er und wir die Runden abwechselnd bezahlten.

Nach einer Weile verlagerten wir das Geschehen auf die Bank vor der Bar und es wurde einer dieser wunderbaren Camino-Abende, an dem alles stimmte: goldener Sonnenuntergang, ausnahmslos nette Pilger, lustige Anekdoten und gute Gespräche. Bevor es allerdings zu feucht-fröhlich wurde, zog Tom Cruise — praktisch wie die trinkfesten, Outback-erprobten Australier nun mal sind — die Notbremse: „Wir brauchen jetzt unbedingt eine feste Unterlage. Wie wär’s mit Käse? Roland, wo kann man den hier im Dorf kaufen?“

„Die Straße hinauf, in Höhe der Kirche ist rechts ein Laden. Verlang den Käse, den ich immer nehme.“

Wenig später kam er mit einer großen Tüte zurück, verschwand in der Herberge, wo er in der Küche eine passende Platte suchte, um darauf den Käse in mundgerechten Stückchen zu servieren. Es war genau die richtige Sorte.

„Was hast du gesagt, was du wolltest?“

Queso Rolando hab ich gesagt, da wussten sie schon Bescheid.“

„Genial. Dich kann man schicken.“ Roland war begeistert und als Tom Cruise am anderen Morgen weiterzog, meinte er: „Schade, den hätte ich gern länger hier behalten.“ Dieser Satz stellte für Roland die höchste zu vergebende Sympathienote dar, denn diese Aussage — weiblich formuliert — war sonst nur besonders liebreizenden Pilgerinnen vorbehalten.

Zwei solche klopften einige Abende später an der Haustüre. Es war schon weit nach acht, die Herberge längst voll, inklusive Notquartier auf dem Treppenabsatz. Aber nun waren noch Nachzügler angekommen — zwei kleine Österreicherinnen, denen die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand.

„Wo kommt ihr denn derart spät noch her?“, fragte ich die Mädchen.

„Aus Logroño“, — was rund 50 Kilometer entfernt war —, „und wir können jetzt wirklich nicht mehr weiter. Die Pfarrherberge ist auch schon voll.“

Da standen sie mit ihren sonnenbrand-geröteten Stupsnasen und Schultern und sahen mich aus großen, hilflos geweiteten Augen bittend an — und ich konnte mit einem Mal einfach nicht anders, als innerlich gleich über ein ganzes Spalier von Schatten zu springen.

„Wartet einen Moment“, sagte ich, ging zu Roland und zog ihn beiseite.

„Wir haben da einen echten Notfall“, suchte ich ihn für meinen Vorschlag einzustimmen, „zwei Mädchen, die bis von Logroño hierher gelaufen sind und jetzt einfach nicht mehr weiter können. Im Ort ist alles voll. Was meinst du, könnte ich ausnahmsweise bei dir im Zimmer schlafen, du hast doch zwei separate Betten? Dann könnten wir den beiden Mädchen mein Zimmer geben“

Roland machte keine dumme Bemerkung und ließ keinen flapsigen Spruch los, zog vielmehr eine anerkennende Grimasse. „Das finde ich ja richtig edel von dir, dass du denen dein Bett abtreten willst. Von mir aus geht das in Ordnung.“ Die Österreicherinnen konnten ihr Glück kaum fassen, nicht nur doch noch einen Schlafplatz zu bekommen, sondern sogar ein schönes eigenes Zimmer. Erst recht dankbar waren sie, als ihnen aufging, dass Roland und ich keineswegs ein Paar waren, sondern nur extra für sie zusammenrückten. „Manchmal trifft man Engel auf Erden“, schrieben sie ins Gästebuch der Herberge, „heute haben wir gleich zwei getroffen.“ Ich fühlte mich geschmeichelt, das zu lesen, und war zugleich ein wenig peinlich berührt. Was war denn da in mich gefahren, Gutmenschsein gehörte doch sonst nicht unbedingt zu meinem Standard-Repertoire? Aber vielleicht war Altruismus genau eine der Lektionen, die ich als Hospitalera am Camino lernen sollte.

Mein Abschied von Azofra rückte unweigerlich näher.

„Ich habe mich so an deine Mitarbeit gewöhnt, ich weiß gar nicht, wie ich wieder ohne dich klarkommen soll“, klagte Roland.

„Das schaffst du schon, vorher ging es doch auch ohne mich.“

„Ja, aber du hast die Latte für künftige Hospitaleras verdammt hoch gelegt.“ Ein Lob, das mich freute, schließlich hatte ich mir Mühe gegeben, versucht, zu jedermann gleichermaßen nett zu sein — was nicht immer einfach war —, nicht die Geduld zu verlieren (auch mit Roland nicht) und mich herauszuhalten aus den Fallstricken der dörflichen Strukturen.

Aber hatte ich während meiner Zeit in Azofra auch mehr von der Magie des Camino ergründet, wie ich es mit vorgenommen hatte? Nicht wirklich — oder vielleicht doch und ich würde es erst später merken.

Es tat mir jedenfalls Leid wegzufahren, denn ich hatte mich hier heimisch gefühlt. Ich würde die „Frauengespräche“, wie Roland sie nannte, mit Begoña vermissen, die Kaffeepausen mit ihr bei Keksen und Schokolade, die drolligen pantomimischen Unterhaltungen mit Enrique, meine Wanderungen durch das weite Land.

Aber es half nichts — ich wurde bereits anderswo erwartet. Ich suchte mir einen Zug nach Ponferrada aus, der nächstgelegenen Bahnstation zu Molinaseca, und rief Alfredo an, um ihm meine Ankunftszeit mitzuteilen.

„Mein Freund Ravi wird dich abholen und zur Herberge bringen. Wie siehst du aus?“

„Ich bin groß, blond und habe lange Haare.“

„Gut. Ravi ist groß, dunkel und hat kaum noch Haare. Ihr werdet euch schon finden.“

Roland ließ an meinem Abschiedstag die Herberge geschlossen, um mich persönlich nach Miranda zu fahren. In der Bahnhofskneipe tranken wir einen letzten Kaffee miteinander, dann kam der Zug, Roland wuchtete meinen Rucksack hinein und winkte mir mit wehmütigem Lächeln hinterher, bis ich außer Sichtweite war.

Ich seufzte, lehnte mich in meinen Sitz zurück und versuchte, mich innerlich aus Azofra auszuklinken und auf Molinaseca einzustimmen — ein neuer Ort, eine neue Herberge und vielleicht ganz neue Erfahrungen.